Sonntag, 3. Februar 2013

Menschen und Leute



Man wird beim Künstler Nietzsche und beim letzten Schüler des Dionysos diese Position wiederfinden: der Tänzer und der Reiter müssen Herr ihres Schwerpunktes bleiben, wenn anders sie nicht abstürzen wollen wie die moderne, „wissenschaftliche“ Gesellschaft säkularisierter Gottesnarren. Weiterhin – und das scheint Nietzsche nicht gesehen zu haben, und mich lehrt es jetzt der Buddhismus – ist das das abendländische Gebahren das aufgrund eines übertriebenen Individualismus in Verbindung mit dem Wahrheits-Wahn bei weitem aggressivste Sozialverhalten: da ist der Einzelne konfrontiert mit Gott und muß seine Seele vor ewiger Verdammnis retten durch die Suche nach Wahrheit und ihrer Moral, die als seiner Wahrheit und ihrer Moral diametral entgegengesetzt konzipiert worden sind von Systemfeinden des späten Altertums. Er muß gewissermaßen seine persönlichen Bindungen zu den Menschen, sein natürliches Wohlverhalten aufgeben, um sie wie Feinde gewissermaßen aus Pflicht lieben zu können,- wobei es gewöhnlich beim absurden Wortgeklingel und Buberschen und Frommschen Klimmzügen bleibt, bleiben muß. Ob Schiller so etwas geahnt hat bei seiner berühmten Kantkritik in dem Gedicht „Die Philosophen“? Die Ehrfurcht vor den Eltern, dem Alter, die schützende Liebe zu den Kindern ist dem rohesten Egoismus gewichen, dem das ungehemmte Ausleben der Perversion als Selbstverwirklichung in Meinungsfreiheit gilt. Die häßlichste Gier ist da und das Verhängnis immer offener, seit Platon die Wahrheit für „schön“ erklärt und das heldische Ethos auf die Offenlegung der Wahrheit gewendet hat, die zuvor durch eben dieses Ethos vermieden und überwunden wurde als der penetrante böse Blick. Thersites hat mit seinen Anwürfen ja recht; aber er wird von Odysseus einfach niedergeschlagen. „Die Menschen“, das sind die Leute, die man einfach in ihrer Gemeinheit abstoßend finden muß, wenn man nicht selbst dazugehört; man vermutet bei ihnen immer einen Menschen; es sind aber keine, es sind nur Leute. Ein wirklicher Mensch ist fast schon ein Übermensch, wenn er von den verderblichen Schlacken einer gemeinen Gesellschaft gereinigt ist. Goethe berichtet in „Dichtung und Wahrheit“ von lauter vortrefflichen Männern und Frauen, die er allerorten getroffen hat. Gab es denn vor zweihundert Jahren so viele treffliche Menschen – oder hat er sich und uns etwas vorgemacht? Könnte ich doch einen einzigen von ihnen einmal eine halbe Stunde sprechen! Lavatern möchte ich allzu gerne kennengelernt haben, der ja eine außerordentliche Erscheinung gewesen sein muß, allein schon, um zu verstehen, daß er für Lenz keine Hilfe sein konnte. Was war mit Lenz? Trachtete er wirklich, einem ihm wohlgesinnten Goethe zu schaden? Warum wurde er von Büchner bemüht? Um Lavatern und Goethe in ein schlechtes Licht zu rücken? Und Goethe selbst? Sucht er auf eine unheimliche Weise allen gerecht zu werden, ein Olympier des Urteilsvermögens?