Mittwoch, 22. April 2015

Ich stellte mir heute vor, wie in einer altrömischen Familie eine extravagante weinerliche Tochter des Hauses zum ersten Mal bei Tisch von einer neuen Religion zu schwärmen begann, wie der pater familias langsam sein Eßbesteck sinken ließ: er habe schon von dem jüdischen Neurotiker gehört, eine neue Variante dieser alles auf den Kopf stellenden, alles unterminierenden jüdische Lehren; er wolle damit nicht mehr behelligt werden, und wie nach einer kurzen Pause die Tochter wieder anhub, es sei aber doch die Wahrheit. Hatte diese ideé fixe einmal gegriffen, gab es kein Halten mehr.
Und nun, zweitausend Jahre später, hat in der westlichen Weltzerstörung diese Religion ihre endliche Frucht zur Reife gebracht. Der erbärmlichste, ekelhafteste Nihilismus! Wie ergreifend wurde er nicht schon vor über zweihundert Jahren von Hölderlins Hyperion beschrieben! Und es ist seitdem noch viel, viel schlimmer geworden: eine bislang unbekannte Entmenschlichung geht ihren Gang; davon, daß etwas drohe, kann schon lange keine Rede mehr sein. Man kann hier nicht einmal mehr satirisch sein, ohne für verrückt zu gelten. Da habe ich nun die "Sudelbücher" von Georg Christoph Lichtenberg gelesen, deren spätere Eintragungen etwa zeitgleich mit dem Hyperion entstanden. Eine starke Betroffenheit und Enttäuschung auch bei diesem und scharfe Einsicht in die Narretei der Welt: Doch welch ein Unterschied! Lichtenbergs Realismus hält ihn trotz allem in der Gesellschaft fest, läßt ihn versöhnliche Töne finden, vorsichtige Hoffnung auf einen Fortschritt der Vernunft mit Hilfe verständiger Wissenschaft setzen. Er bleibt wie Goethezuversichtlich, während sich Hölderlin nicht idealistischen Menschen-Bild trennen kann bis zur völligen Verwerfung seiner Zeit. Warum ist Lichtenbergs Leidensdruck nicht so groß wie der des Dichters? Weil er eine Professur, öffentliche Anerkennung und einen Buckel hatte? Und Goethes, weil er ein Ministeramt bekleidete? Wie hündisch hängen noch die Besten von den Leckerchen ab, die ihnen eine verachtete debile Gesellschaft zuwirft! Nach Lichtenbergs eignem Aufruf: "Zweifle an allem wenigtens einmal, und wäre es auch der Satz: zweimal 2 ist 4." möchte ich sein hübsches Verslein "Der Weisheit erster Schritt ist Alles anzuklagen, der letzte: sich mit Allem zu vertragen." bezweifeln und geradezu umkehren! Was er für Weisheit ausgibt, ist bloß Schopenhauers "Lebensweisheit", Akkommodation, die mir immer, als eigentlich ordinär, fernlag. Mein Gott, wie lange habe ich versucht, mich mit allem zu vertragen, und dabei viel Zeit verloren. - "Die Gesichter der Idioten sind oft wahre Monstra", liest man bei Lichtenberg, (...) "daß man in manchen Köpfen nicht denken könne, will ich gerne zugeben; wem die Finger zusammengewachsen sind, kann nicht auf der Flöte spielen lernen." Er würde heute, auf der Strand-Promenade von Kompong Som, den Begriff des Idioten sicherlich weiter fassen müssen, als er es 1783 tat. Das ist auch eine Folge der Französischen Revolution, die Lichtenberg erst gegen Ende seines Lebens, das doch stark dem Vernunft-Glauben verhaftet war, einzusehen begann, - und zwar ist es so, daß seine Monstra uns eher als Menschen gelten denn irgend ein Homo Faber mit Aktenköfferchen und Tablett. Dieser Perspektivwechsel findet sich deutliche bei Heinrich Heine vollzogen, zum Beispiel in seinen "Reisebildern" von London und Hamburg. Es sollte mich nicht wundern, wenn sich Heine da auf Hölderlin stützte. Das Herz erkennt die umgekehrte Art Mensch als Mensch als die Vernunft: Menschenrechte werden nur vom Herzen verliehen und vor dem Herzen verspielt; sie lassen sich durch keine Vernunft ertrotzen oder ausklügeln, da Vernunft letztlich im Nihilismus endet. Die alles gehört zur Vorgeschichte von Nietzsches Fest-Stellung, daß "der Rest nur die Menschheit (ist)". Wer will es ihm verdenken, vom Menschen hoch zu denken!? Der müßte ihm das Wasser reichen können!